Kultur und Krise

Klischees über Argentinien gibt es viele: Tango, Fußball, Gauchos, Steaks. Dabei ist der zweitgrößte Staat in Iberoamerika mit seinen 45 Millionen Einwohner*innen ein Kulturgigant. Zu den prägenden argentinischen Schriftstellern der Weltliteratur gehören Jorge Luis Borges, Julio Cortázar, Samanta Schweblin und Manuel Puig. Berühmtester Komponist ist Astor Piazolla, die bekannteste Stimme gehört Mercedes Sosa.

Wesentlich ärmer wäre die klassische Musikwelt ohne Martha Argerich, Sol Gabetta und Daniel Barenboim. Beliebte Popstars wie Gilda, Gustavo Cerati und Fito Páez haben sowohl in Argentinien als auch in der gesamten spanischsprachigen Welt ihre Fans.

Zum Exportschlager hat sich auch das argentinische Kino entwickelt, das mit Regisseuren wie Luis Puenzo, Pino Solanas und Juan José Campanella weltweit Auszeichnungen erhält. Zuletzt wurde Santiago Mitres Film "Argentinien, 1985" mit Ricardo Darín bei den Golden Globes ausgezeichnet und 2022 für den Auslands-Oscar nominiert; er erzählt die Geschichte des Prozesses, den Staatsanwalt Julio César Strassera 1985 gegen die argentinische Militärjunta führte, deren Terrorregime 1976 bis 1983 für die Folterung und das Verschwinden tausender unschuldiger Menschen verantwortlich war.

Außerdem besitzt Argentinien eine äußerst lebendige Theaterszene, vor allem in Buenos Aires mit seinen unzähligen Theatersälen, aber auch in Städten wie Rosario. Rafael Spregelburd, Mariano Pensotti und Lola Arias sind dank ihrer Gastspiele und Inszenierungen in Deutschland längst zu Aushängeschildern des argentinischen Theaters geworden.

Argentinien hat eine reiche und wechselvolle Geschichte. Am Ausgang des 19. Jahrhunderts erlebte es einen ersten erheblichen Wirtschaftsboom, an dem nicht zuletzt die großen Migrationswellen aus Spanien, Italien und später auch aus Deutschland ihren Anteil hatten. Auf die Década infame, die Militärdiktatur der 1930er-Jahre, folgte mit der Wahl Juan Domingo Peróns zum Präsidenten 1946 eine der bis in die Gegenwart prägendsten Epochen der argentinischen Geschichte. Zusammen mit der legendären First Lady Eva, genannt Evita, führte Perón das Land durch intensivierte Industrialisierung und eine aktive Sozialpolitik in einen bis dato ungekannten Wohlstand. Der Peronismus scheiterte am eigenen Autoritätsstreben und den hohen Staatsschulden: 1955 putschte erneut das Militär; eines der dunkelsten Kapitel argentinischer Geschichte nahm seinen Anfang, das in der Militärdiktatur Jorge Rafael Videlas gipfelte, der Zehntausende Regimegegner zum Opfer fielen.

Erst seit 1983 wird Argentinien als präsidentielle Bundesrepublik demokratisch regiert und schwankt zwischen Phasen des Aufschwungs und schweren ökonomischen Krisen. Das ultraliberale Jahrzehnt unter Carlos Menem (1989-1999) führte zur schwersten Wirtschaftskrise in der Geschichte Argentiniens, die in einem Volksaufstand 2001 gipfelte, der die Regierung stürzte und ein institutionelles Vakuum hinterließ, das fünf Präsidenten in derselben Woche zu füllen versuchten. Auf diese Zeit der Instabilität folgten die Regierungen von Nestor Kirchner und seiner Frau Cristina Fernández de Kirchner, die das Land zunächst zu wirtschaftlichem Wachstum, dann aber in eine Rezession führten, die sich unter dem neoliberalen Mauricio Macri (2015-2019) noch verschärfte. Obwohl Argentinien nach wie vor eine der stärksten Volkswirtschaften Lateinamerikas ist, leidet das Land derzeit unter einer jährlichen Inflation von 150 Prozent, die in naher Zukunft wohl nicht überwunden werden kann. Ein neuer Akteur auf der politischen Bühne, der rechtspopulistische Präsidentschaftskandidat Javier Milei, trübt das Bild zusätzlich.