Stille Flucht

Kuba ist ein Mythos. Vor allem unter europäischen Linken war es immer das Land der Revolutionäre Fidel Castro und Ernesto "Che" Guevara, die 1958 den von den USA gestützten Diktator Fulgencio Batista erfolgreich aus dem Amt putschten. Damit setzten sie zugleich – und das begründet bis heute den kubanischen Mythos – dem US-Imperialismus das bislang einzig gelungene sozialistische Staatenexperiment direkt vor die Haustür. Die Hauptstadt Havanna wurde mit ihrem bröckelnden Kolonialcharme, der legendären Musikszene (von Wim Wenders durch seinen Film "Buena Vista Social Club" auf den Denkmalsockel gehoben), den Oldtimern, Zigarrenmanufakturen und den Liedern von Pablo Milanés, Silvio Rodríguez und Luis Eduardo Aute zum Sehnsuchtsort von Generationen weltweit.

Kuba, das hieß und heißt noch immer Widerstand, Authentizität und Unangepasstheit bei vergleichsweise hohen Sozial- und Bildungsstandards. Allerdings verschärft sich die Serie an Wirtschaftskrisen, die Kuba seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 und dem Wegfall der wichtigen Ostblock-Wirtschaftspartner erschüttern, gerade erneut. Es fehlt an allem. Ein Beispiel ist die einst führende Zuckerindustrie. Während die Insel in den 1980er Jahren regelmäßig mehr als 7 Millionen Tonnen produzierte, waren es in der letzten Saison – unter dem Druck neuer Sanktionen der USA – nur noch 480.000 Tonnen. Weitere Probleme sind die völlig veraltete Technik, fehlende Ersatzteile und Herbizide.

Während sich Kuba politisch allmählich zu öffnen scheint – so erlaubt die neue Verfassung von 2019 Privateigentum und in begrenztem Maße auch ausländische Investitionen –, sind weite Teil der elf Millionen Einwohner*innen von Armut betroffen. Der durchschnittliche Monatslohn eines Berufstätigen beläuft sich auf umgerechnet 160 Euro. Und obwohl die kubanische Regierung gerne erklärt, dass es auf Kuba keinen Hunger gebe, sprechen die langen Schlangen vor den Lebensmittelläden eine andere Sprache. Die Öffnung der zentralistischen Staatswirtschaft erfolgt so zurückhaltend, dass kaum belebenden Effekte auftreten. Der Mythos Kuba lebt, aber die Realität lauert ihm doch überall auf.

Auch in der Kunst. Kubas Nationaldichter José Martí, romantischer Meister unendlich zarter Gedichte, starb im Kampf gegen die Kolonialherren. Zu Kubas Klassikern gehört auch die Dichterin und Dramatikerin Gertrudis Gómez de Avellaneda y Arteaga. Waren viele Dichter begeisterte Anhänger der Revolution, verließen etliche von ihnen später nach Konflikten mit dem Regime das Land wie Guillermo Cabrera Infante oder Reinaldo Arenas. Die neue, oft am Instituto Superior de Arte ausgebildeten Generation von Theatermacher*innen wie Nelda Castillo, Carlos Celdrán und Julio César Ramírez stehen für ein junges Theater, das zunehmend an Performance- und Sprechtheater mischt und Genregrenzen überschreitet. Allerdings macht sich auch bei ihnen die andauernde Wirtschaftskrise bemerkbar – viele Theaterschaffende haben bereits das Land verlassen. Das gilt übrigens auch für den Sport: Während der Panamerikanischen Spiele im November 2023, bei denen mehrere kubanische Athlet*innen Medaillen holten, entschieden sich fünf Sportlerinnen der kubanischen Hockey-Nationalmannschaft, in Santiago de Chile zu bleiben.