Theatermachen als Notwendigkeit

von Janis El-Bira und Georg Kasch

Jedes Festival braucht jemanden, der die Auswahl trifft. Bei ¡Adelante! waren das neben den künstlerischen Leitern Holger Schultze und Lene Grösch die beiden Kuratoren Ilona Goyeneche und Jürgen Berger. Ein Gespräch über Auswahlkriterien, transatlantische Unterschiede und politisches Theater.

Ilona, Jürgen, wie seid ihr bei der Auswahl vorgegangen? Ihr habt ja wahrscheinlich nicht den ganzen Kontinent bereist und alles angeschaut, was es zu sehen gab...

Ilona Goyeneche: Am Anfang haben wir eine Art Mapping gemacht und eine Gesamtrecherche angestellt. Wir hatten schon einige Inszenierungen gesehen, jeder hatte ja einen Landesschwerpunkt. Außerdem haben wir mit Menschen gesprochen, von denen wir wussten, dass sie einen guten Einblick in verschiedenen Ländern und Szenen haben.

Jürgen Berger: Um ein Beispiel herauszugreifen: Einer meiner Schwerpunkte war Kuba. Ich war in den letzten Jahren häufiger dort, hatte also einen ganz guten Überblick. Aber es gibt natürlich Menschen, die man fragen konnte, was sich jenseits von Havanna ereignet. Außerdem diskutiert man auf Festivals und anderen Veranstaltungen permanent über Theater. Da hatten unsere Ansprechpartner ein gutes Gespür für das, wonach wir Kuratoren Ausschau halten könnten.

Gab es Inszenierungen, bei denen euch sofort klar war, dass sie eingeladen werden müssen?

Berger: Ja, zum Beispiel "Yilliam de Bala (Coming Soon)". Bei anderen Produktionen haben wir viel diskutiert. Zum Beispiel, weil ein sehr wichtiges Thema behandelt wird, allerdings in einer Ästhetik, die vom Publikum und den Fachleuten die Einsicht verlangt, dass Theater nicht überall auf der Welt so gemacht wird wie bei uns. So etwas wollten wir trotzdem einladen, um zeigen zu können, mit welchen Mitteln gesellschaftlich wichtige Themen in diesem Land verhandelt werden.

Das Festival stellt die These vom "politischen Theater" auf, das die Szene in Lateinamerika prägt. Hattet ihr die von Anfang an?

Berger: Es hat sich früh abgezeichnet, dass wir uns mit einem Kontinent beschäftigen, dessen einzelne Länder sich auf ganz unterschiedliche Art im Umbruch befinden. Das war die Linie, an der wir uns entlang gehangelt haben: mit den eingeladenen Produktionen den Umbruch in dem jeweiligen Land zu reflektieren und wie die Theater sich damit beschäftigen.

Goyeneche: Außerdem haben wir versucht, Inszenierungen der letzten Jahre einzuladen, Gegenwartstheater. Da gibt es Themen, die sich immer wiederholen: die Aufarbeitung der Geschichte, der Umgang mit der Gesellschaft. So ergab sich mit den Inszenierungen eine Art thematischer Leitfaden, mit dem man vielleicht die ganze Region Iberoamerika besser verstehen kann.

Gab es etwas, das euch bei euren Sichtungen besonders überrascht hat?

Goyeneche: Eher etwas, das ich bestätigt gefunden habe: wie stark doch die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, der eigenen Gesellschaft ist. Auch, kritisch mit der eigenen Gesellschaft umzugehen. Chile ist da ein gutes Beispiel. Die Inszenierung "Inútiles" zeigt, wie stark Rassismus und Klassendenken die Gesellschaft und den Alltag prägen. Es geht um Fragen wie: Wer sind wir? Wie verstehen wir uns selbst? Ich fand es interessant, dass die Inszenierungen sich trauen, sich mit Situationen auseinanderzusetzen, die viele nicht hören oder akzeptieren wollen, die aber doch da sind und zur Gesellschaft gehören.

Berger: Was in einigen Produktionen mitschwingt, diese Auseinandersetzung mit sich selbst und der eigenen Geschichte, schließt die koloniale Vergangenheit mit ein. Das sieht man vor allem in der Eröffnungsproduktion "Die lateinamerikanische Tragödie" aus Brasilien. Das ist ein explizites Thema, transportiert über literarische Texte aus ganz Südamerika und über unterschiedliche Spielformen. Überraschungen gab es eher politische, zum Beispiel in Brasilien: Mitten in den Vorbereitungen des Festivals wurde Dilma Rousseff aus dem Amt vertrieben, nahm die herrschende Oberschicht wieder das Ruder in die Hand. Das spiegelt sich dann in der Kulturszene wider, weil alles, was es an Fördergeldern gibt, zusammenzubrechen droht. Das sind ganz konkrete Auswirkungen, auf die Theatermenschen erst einmal nicht reagieren können. Aber sie werden in der Gesamtatmosphäre eines Festivals wie ¡Adelante! mitschwingen und diskutiert werden.

Gibt es eine Einheit des lateinamerikanischen Theaters, etwa im Gegensatz zum europäischen? Oder verlaufen die Grenzen woanders?

Berger: Mein Eindruck ist, dass es eine Einheit in dem Sinne nicht gibt, weil die Theatermacher unterschiedliche Dinge ausprobieren. Was man aber immer wieder sieht: Sie arbeiten viel in Richtung eines dokumentarischen oder dokufiktionalen Theaters. In Südamerika gibt es außerdem ein großes Interesse an deutschsprachigen, auch jüngeren Texten. Aber da eine Einheit zu finden, das würde mir eher schwerfallen.

Goyeneche: Der Unterschied liegt nicht in den Inhalten oder Formaten, sondern darin, wie man Theater macht. Feste Ensembles gibt es in Lateinamerika kaum, auch kein vergleichbares Budget. Die Theatermacher müssen versuchen, ihre Inszenierungen zum Teil aus dem Nichts zu stemmen. Das prägt auch das Theatermachen. In nur sehr wenigen Fällen gibt es riesige Bühnen, die Bühnenbilder sind eher schlicht und leicht anpassbar. Deshalb ist vermutlich auch das Dokumentartheater so interessant, weil da viel Video benutzt oder anhand von Objekten erzählt wird.

Berger: In Deutschland erscheint es in der Diskussion manchmal, als sei Theatermachen ein Luxus. In allen lateinamerikanischen Ländern hingegen habe ich festgestellt, dass Theatermachen eine Notwendigkeit ist. Wenn es zum Beispiel in Mexiko eine Recherche für ein dokumentarisches Theater gibt, ist die Antwort auf die Frage, ob ich mir überhaupt anmaßen darf, die Stimme der Flüchtlinge zu sein: Ich MUSS es machen, das ist eine absolute Notwendigkeit. Theatermacher, die sich mit ähnlichen Themen in Deutschland beschäftigen, fragen: Ist es politisch korrekt? Diese Diskussion gibt es dort gar nicht.

Goyeneche: Sicher ist die lateinamerikanische Gesellschaft keine so diskurslastige wie die europäische. Dafür ist das Theater der Ort, wo man sich wirklich mit Themen auseinandersetzen kann. Das Theater in Lateinamerika spielte während der Diktaturen eine unglaublich wichtige Rolle, etwa in Chile. Es hat sich Sachen geleistet und Themen auf die Bühne gebracht, die man sich so im Alltag nicht getraut hat zu besprechen.

Bei der Auswahl fällt die große Anzahl von Stückentwicklungen auf. Ist das ein Trend im lateinamerikanischen Theater? Hat euch das einfach mehr interessiert? Oder ist das schlicht anschlussfähiger an das, was wir heute in Deutschland als aktuelles politisches Theater verstehen?

Goyeneche: In allen Ländern wird tatsächlich viel mit Stückentwicklungen gearbeitet, weil die Theatermacher versuchen, sich mit sich selbst und der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen.

Berger: Um nur ein Beispiel zu nennen: "La cautiva" aus Peru beschäftigt sich mit der Auseinandersetzung des Staates mit Guerillatruppen in den 1980er Jahren. Das war ein Einschnitt in der Geschichte des Landes mit vielen Toten. Als das Stück rauskam, wurde die Gruppe angeklagt, weil sie sich dem Verdacht ausgesetzt hatte, Terrorismus zu verherrlichen. Bei uns können Theaterschaffende alles sagen und machen, die Gruppen dort aber gefährden sich unter Umständen, wenn sie ein Stück entwickeln, mit dem sie einen gesellschaftlichen Konflikt in den Blick nehmen, der immer noch virulent ist.

Eure Einladungen entstammen alle einem Theater, das man hier in Deutschland als freie Szene bezeichnen würde. Kann man in Lateinamerika überhaupt zwischen Stadttheater und freier Szene unterscheiden?

Goyeneche: Dass ein festes Ensemble unter einem Intendanten an einem bestimmten Haus kontinuierlich Theater macht, mit einem Spielplan und Produktionsbudget - dieses Konzept an sich existiert nicht.

Aber es gibt doch in mehreren Städten Nationaltheater.

Goyeneche: In Mexiko-Stadt gibt es zum Beispiel das Nationale Theaterensemble. Das gehört zum Kulturministerium, bekommt eine kontinuierliche Finanzierung, hat ein festes Haus. Das ist aber kein Stadttheater, sondern ein eher kleines Gebäude. Dieses Ensemble gehört natürlich nicht zur freien Szene und inszeniert zum großen Teil Klassiker, auch mexikanische Klassiker. Es gibt noch ein zweites Ensemble an der Universität in Veracruz. Aber das sind zwei – in ganz Mexiko!

Berger: In Buenos Aires zum Beispiel gibt es sehr viele Theatersäle, darunter wenige, die vom Staat betrieben werden. Da geht man dann als Gruppe rein, etwa Rafael Spregelburd, wenn er einen großen Raum braucht. Ansonsten gibt es eine ungeheure Menge von kleinen Bühnen, die bei uns Orte wären, wie sie freie Theater oder Studentenproduktionen bespielen. Die sind privatwirtschaftlich organisiert, das heißt, dass die Betreiber Geld verdienen müssen, während die Theaterkünstler wie Hamster im Laufrad sind. In Buenos Aires habe ich erlebt, dass die Schauspieler nach einer Uraufführung um 18 Uhr nicht zur Premierenfeier blieben, weil sie um 21 Uhr irgendwo anders spielen mussten.

Bei eurer Auswahl fällt auf, dass Chile und Kuba mehrfach vertreten sind, andere Länder wie Ecuador, Bolivien, Paraguay aber gar nicht. Warum?

Berger: Aus manchen Ländern hätten wir gerne etwas eingeladen, aber es ging nicht: Nach Venezuela zu Reisen ist im Moment zu gefährlich. Uns war allerdings von vornherein klar, dass wir nicht aus jedem lateinamerikanischen Land eine Produktion würden einladen können. Grundsätzlich ist es so, dass wir Schwerpunktländer haben wollten. Die beiden Schwerpunktländer machen einen krassen Gegensatz auf: Kuba hat sich angeboten, weil sich dort im Theater wegen der allmählichen politischen Öffnung so viel tut. Ein ganz armes Land, wo die Menschen trotz der allmählichen Öffnung immer noch täglich darum kämpfen, was zum Essen auf dem Tisch zu haben.

Und in Chile?

Berger: Chile ist der totale Gegensatz: Das ist ein ziemlich reiches Land mit einer gut funktionierenden Wirtschaft, in dem man auf eine Infrastruktur trifft, die sich durchaus mit mitteleuropäischen Standards messen lassen kann. Die Gruppen dort werden ganz anders gefördert als zum Beispiel in Kuba. In Kuba ist es so, dass einzelne Gruppen für Proben eine bestimmte Zeit zugeordnet bekommen. Wenn die Probe bis 18 Uhr geht, schaltet der Techniker einfach das Licht aus. Und wenn ein Scheinwerfer ausfällt, dann hast du kein Licht mehr, weil es keinen anderen Scheinwerfer gibt. Das sind die beiden Extremsituationen dessen, was man in Lateinamerika vorfindet.

Ilona GoyeIlonaGoyeneche2neche
Die chilenische Journalistin und Kulturmanagerin arbeitete als Redakteurin bei der chilenischen Tageszeitung EL MERCURIO und ihrer Online-Version, von 2006 bis
2008 war sie Chefredakteurin der Kulturabteilung von EL MERCURIO ONLINE. Seit 2008 ist sie für das Goethe-Institut im Bereich Theater und Tanz tätig, zuerst in Chile und derzeit in Mexiko. 2014 war sie Jurymitglied des mexikanischen nationalen Tanz-und Choreografie Preises PREMIO NACIONAL DE DANZA GUILLERMO ARRIAGA. Im selben Jahr war sie Scout des Heidelberger Stückemarktes 2015 und kuratierte die Auswahl des Gastlandes Mexiko. Im gleichen Rahmen übernahm sie die Koordination und Redaktion der Spezialausgabe Mexiko von Theater der Zeit. 2016 ko-kuratierte sie das Mexikanische Theaterfestival „Endstation Sehnsucht“ bei den Münchner Kammerspiele.

JuergenBergerJürgen Berger
Als freier Theater- und Literaturkritiker schreibt er für die Süddeutsche Zeitung, Theater heute und die TAZ. Von 2003 - 2007 war er Mitglied im Auswahlgremium des Mülheimer Dramatikerpreises, von 2007 - 2010 Jurymitglied des Berliner Theatertreffens und 2006 - 2015 Juror des Else Lasker-Schüler-Stückepreises. Seit 2012 ist er Juror des Osnabrücker Dramatikerpreis und Mitglied im Auswahlgremium des Mülheimer Dramatikerpreises. 2015 war er Ko-Curator des Festivals OFFENE WELT in Ludwigshafen. Seit Jahren beschäftigt er sich intensiv mit der Theaterszene Lateinamerikas und leitete für das Goethe-Institut zahlreiche Workshops mit internationalen Theaterschaffenden u.a. in Kuba, Mexiko, Chile und Brasilien. Neben Reportagen zum Theater u.a. dieser Länder, schrieb er fünf Theatertexte, die auf verschiedenen Bühnen der Welt (ur-)aufgeführt wurden und werden.

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