Stimme sucht Frau
von Anna Landefeld
Heidelberg, 8. Februar 2020. Wer ist sie? Ist sie überhaupt eine sie? Ist das wichtig? In "Vaga Carne" (Wirres Fleisch) von Grace Passô bleibt vieles bewusst im Stillen: keine Diskussionen über Identitätsfragen, keine Biografie, kein Geschlecht.
Das Wort dehnt sich aus, bläht sich auf
Es ist die Geschichte einer rebellischen Stimme, die lange umhergerirrt ist. Viele Minuten hören wir ihr zunächst dabei zu, wie aus konkreter Poesie allmählich konkrete Szenen werden. Noch ist die Bühne dunkel und leer. Es gibt nur die Erzählung, die aus den Lautsprechern zu uns klingt und lautmalerisch den Worten nachschmeckt. Im flirrenden Ton erzählt uns die Stimme von ihrer Reise und ihrer Suche nach Körpern. Über ihre Aufenthalte in Enten (die haben Humor!), Pferden und Hunden. Aber auch in Kaffee, Cremes und einem Lautsprecher. "Der sagte, dieses Land ist gerecht. Sieht sie das auch so?"
https://adelante-festival.de/de/brasilien/ueber-brasilien/gastspiel-vaga-carne/was-unser-kritiker-sagt#sigProId7f27892901
Mit sie ist die Performerin Grace Passô gemeint, der erste Mensch, von dem die Stimme Besitz nimmt. Passô steht jetzt auf der Bühne. Noch immer ist es dunkel. Ein Lichtstreifen legt sich über ihre Augen, während die Stimme beschließt, ein wenig länger zu bleiben, die Frau und ihren Körper zu erkunden. Jetzt sieht man Passô auch, die den Raum mit ihrer schier überbordenden Präsenz erfüllt und mit ihrer ganze Oktaven umfassenden, biegsamen Stimme. Einmal fordert Grace Passô/die Stimme das Publikum auf, ihr Wörter zuzurufen, weil sie ihre vergessen hat. Erst "sexy", dann "strong", stark. Sie wiederholt das Wort, als liebliches Gezwitscher, als urtiefes Grunzen, es dehnt sich aus, bläht sich auf, bis sie es beinahe erbricht. Am Ende hat dieses "strong" jede Bedeutung verloren, ist ein Laut ohne Sinn. Nur die Stimme verliert niemals ihre Tiefe, ihre Ironie.
Wo? Wo?
Der Performance zu folgen, ist nicht einfach. Die Themen, die es eigentlich nicht gibt, wechseln, genauso wie die Stimmungen – und dann immer wieder das, was irgendwie da ist, aber nicht ausgesprochen wird. Es ist eine schmerzhafte Unterhaltung, die die Stimme und der Körper führen, und die der Stimmen-Körper mit uns führt. Schmerzhaft, weil Passô über Rassismus, Machismo, Homophobie und Sexismus spricht, ohne genauer auf sie einzugehen. "Wo ist hier die Gerechtigkeit?", fragt Passô. Verliebt sei sie doch in sie. Immer wieder greift sie in die Luft, schnappt nach ihr wie nach einem Insekt: "Wo? Wo?" Passô verdreht sich, stapft mit den Beinen. Ihr Körper ist dabei geschmeidig und biegsam wie zuvor ihre Stimme. Einmal kommt ein Mann auf die Bühne, setzt sich ans Schlagzeug auf der sonst leeren Spielfläche, treibt die Stimme an und vor sich her, die für Momente wieder ganz Klang wird, Geräusch.
Am Ende erfährt man doch, dass hier gerade eine schwarze Frau im Jahre 2020 zu uns gesprochen hat. Mit einer Stimme, die nicht ihre ist, die sie aber auch so schnell nicht wieder verlassen wird – sie kommt einfach nicht mehr raus aus diesem Körper. Allenfalls in den Wörtern, die ununterbrochen aus ihr herausbrechen. Wenn sie fragt: "Werdet ihr jetzt meine Worte vergessen?", dann scheint sie zu fürchten, dass man ihr nicht mehr zuhört, nun, da sie aus einer schwarzen Frau tönt.
Doch das bleiben Andeutungen, auf die man genau hören muss. Wie leicht wäre es für Passô, ihren so lyrischen, dichten Text in ein politisches Manifest kippen zu lassen. Doch ihre Performance wird genau deswegen so klug, weil Passô keine Erwartungshaltung bedient, sich nicht als Projektionsfläche benutzen lässt. Wie magisch und kraftvoll ist es doch, etwas zu sagen, und am Ende ist alles offen und dennoch klar.
Vaga Carne (Wirres Fleisch)
von Grace Passô
Idee, Text und Regie: Grace Passô, Künstlerische Mitarbeit: Kenia Dias, Nadja Naira, Nina Bittencourt, Ricardo Alves Jr., Ricardo Garcia, Licht: Nadja Naira, Beleuchtung: Edimar Pinto, Ton: Ricardo Garcia, Kostüme: Virgilio Andrade, Recherche und Produktion: Nina Bittencourt, Übersetzung Übertitel: Katja Roloff.
Mit: Grace Passô.
Dauer: 1 Stunde, keine Pause