Wir werden nie vergehen

von Georg Kasch

Heidelberg, 4. Februar 2020. Wer sind hier der Attentäter? Die politischen Aktivisten, die es auf die dekadente Elitefamilie abgesehen hat? Oder die Mitglieder eben dieser Familie, die ihren Angestellten das Leben zur Hölle machen? Die Angestellten, die mit den Aktivisten paktieren? Oder die Familienmitglieder, weil sie einander aus tiefstem Herzen verachten?

Kein Versuch klappt

In "Cuando estallan las paredes" (Mauern fliegen in die Luft) kann man sich bei nichts sicher sein. Autor und Regisseur Fabio Rubiano Orjuela, der zudem das Teatro Petra leitet und in der Rolle des Arztes auf der Bühne steht, hat mit seinem Stück eine so faszinierende wie irritierende Mischung aus Auto sacramental und Telenovela geschaffen: Einerseits sind die Figuren Typen, mehr Träger gesellschaftlicher und sozialpolitischer Positionen als Menschen aus Fleisch und Blut. Andererseits verheddern sie sich immer wieder emotional oder sexuell ineinander. Und dann diese Verwicklungen: Der Vater treibt's mit dem Dienstmädchen, die Schnapsdrossel-Mutter mit dem Familienarzt, die anorektische Tochter kotzt bei jeder Gelegenheit, der Sohn ist schwul und träumt vom Sex mit dem Bodyguard. Könnte sich keine Seifenoper schöner ausdenken!

Eigentlich sind die Welten hier getrennt, oben und unten, links und rechts. In dem Maße aber, in dem die vermeintlichen Terroristen den Alltag der Familie infiltrieren, entwickeln sie Gefühle, fühlen sich körperlich angezogen, perforieren die Klassengrenzen. Was dazu führt, dass die Attentate nie vollzogen oder wenn, dann gleich wieder zurückgezogen werden. Kein Versuch klappt. Irgendwann sagt es der Vater der reichen Familie deutlich: Wir werden nie vergehen. Weil ein Attentat vielleicht vier, fünf Personen tötet. Aber jeder Racheakt, jede Ausbeutung viel mehr Menschen.


Dieses ausweglose Dilemma, in dem sich auch die kolumbianische Realität des schier endlosen Konflikts zwischen Staat und FARC-Rebellen spiegelt, inszeniert Rubiano Orjuela als groteske Gesellschafts-Choreografie: Besteck fliegt durch die Luft, Figuren erstarren in Zeitlupe, statt Erbrochenem prasseln kleine Steinchen auf den Boden (man kann das alles gut im Video erahnen, mit dem das Teatro Petra sich und ihr Stück vorstellt).

Papas Liebling killt Mamas Liebling

Hinter neun Flügeltüren kommen die Schauspieler*innen in überzeichnenden Kostümen – die Herrschaften in Barock-Allegorien, die Diener kniefrei – zum Spiel vom nicht enden wollenden Kampf um ausgleichende Gerechtigkeit hervor und schreiten zu ihren Plätzen in der Tisch- und Stuhllandschaft. Marcela Valencia torkelt als Mutter hinreißend überdreht herum und spritzt ihr zynisches Gift, Jacques Toukhmanian lässt als Vater alles souverän an sich abprallen, bis er plötzlich zupackt, Mauricio Santos mault ein Muttersöhnchen hin. Surreal wird es, wenn Santiago Londoño nicht nur den Jesus-gleichen Chefaktivisten spielt, in den sich die Kindermächen-Nonne verknallt, sondern auch den Hund, Papas Liebling, der Mamas Liebling (den Arzt) killt.

Bei all dem überdrehten, rasanten Treiben auf der Bühne verliert man schon mal den Durchblick: Der wievielte Attentats-Durchlauf wird gerade geprobt? Wer lebt noch oder schon wieder, wer ist endgültig abgeräumt? Scheitern die Aktivisten wirklich an ihren moralischen Bedenken? Oder weil sie längst Teil des Problems sind, symbiotisch verwoben mit ihren Ausbeutern? Einmal scheint so etwas wie eine Lösung auf: Da schlägt der Chefaktivist vor, sich doch der Demokratie zuzuwenden. Und Papa? Kriegt sofort Angst vor dem Machtverlust. Aber dann jammert jemand, dass es jetzt schon so viele Opfer gegeben habe, nun müsse man auch weiterkämpfen. Und so explodieren die Bomben, fliegen Mauern in die Luft. Und die, die immer schon oben waren, haben das letzte Wort.

Cuando estallan las paredes (Mauern fliegen in die Luft)
Regie: Fabio Rubiano Orjuela, Produktion: Teatro Jorge Eliécer Gaitán (Idartes), Teatro Petra, Künstlerische Leitung: Hernán García, Bühne: Mambrú Arte, Licht: Adelio Leiva, Kostüm: Hernán García (Teatro Petra), Produktionsleitung: Daniel A. Mikey, Übersetzung Übertitel: Miriam Denger.
Mit: Juanita Cetina, Jorge Mario Escobar, Liliana Escobar, Mónica Giraldo, Santiago Londoño, Fabio Rubiano, Mauricio Santos, Jacques Toukhmanian, Marcela Valencia.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

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