Es lebe die Poesie

von Georg Kasch

Heidelberg, 10. Februar 2024. Lässt sich das Böse in eine Flasche verbannen? Diese drei glauben: ja! Freunde sind’s der Abteilung Wein und Poesie, Romantiker also, und deshalb wirkt es halb naiv, halb rührend, wenn sie mit drei Blutstropfen versuchen, das Übel der Welt zu locken. Dabei lauert es überall, hinter jeder Hartherzigkeit, jedem Egoismus.

Einmal steht eine Frau auf der Straße, ein Mann beschwert sich von seinem Fenster aus: Willst Du mein Auto klauen? An mein Geld? Meinen Körper? Geh aus meinem Licht! Eine irrwitzige Umdrehung ist das der berühmten Begegnung von Diogenes und Alexander: Wollte dort der Philosoph vom Herrscher nichts weiter, als dass er ihm aus der Sonne gehe, so kann der Mann hier nicht ertragen, dass die Frau im Schein seines Fensterlichts verharrt.

Wo bleibt die Gemeinschaft, wenn alle auf ihrem Eigentum beharren? Die Leichtigkeit, wenn Menschen statt Bäumen nur Eindringlinge sehen? Die Poesie, wenn überall Grenzen hochgezogen werden? Es sind diese Fragen, die Trinidad González in ihrem Stück "Espíritu" (Geist) umkreist und als Regisseurin mit schlichten Mitteln erzählt: drei Schauspieler:innen, im Hintergrund drei Keyboards, Mikrofone und weitere Instrumente, nur wenige Requisiten.

So muss man sich das aus dem Trailer und den Fotos rekonstruieren, denn die Inszenierung, die eben noch in Berlin am HAU lief, kann in Heidelberg nicht gezeigt werden: Trinidad und Tomás González mussten wegen eines familiären Notfalls abreisen.

Ein etwas anderer Abend

Stattdessen steht der verbliebene Schauspieler Matteo Citarella mit Ausstatterin Nicole Needham und Produzent Horacio Pérez auf der Bühne (der hier im Video über die Theaterlandschaft Chiles spricht). Halb lesen sie, halb spielen sie, und das derart überzeugend, dass man immer wieder vergisst, nicht die Originalproduktion zu erleben. Einmal treibt Citarella die Worte "la plata" (die Kohle) in die Wiederholung, zittert und zuckt und bebt am ganzen Körper, dass ihm die Silben zu einem Wimmern voller Weltschmerz zerbröseln. Needham liest die Frau der erwähnten Straßenszene und eine Freundin, der Status wichtiger ist als Liebe, Pérez einen Mann, für den das Erobern wichtiger ist als das Verstehen – oft mit wohldosierter Untertreibung, so dass etliche Begegnungen wirken wie Samuel-Beckett-Szenen.

Und doch: Der Stahlträger, an dem die Scheinwerfer hängen und der – anders als auf den Bildern – abgeknickt zu Boden zeigt, stört die Fiktion, weil er ein wenig die Sicht auf die hintere Leinwand verdeckt. Zwei Mal ist dort die Originalbesetzung beim Musizieren zu sehen; im Vordergrund leuchtet der Bildschirm eines aufgeklappten Laptops, mit dem sie die Technik einspielen.

Versager, Pragmatiker, Poet

Vor allem in der finalen Musikszene wird klar, was uns dann doch entgeht. Da stimmen im Video die beiden González‘ und Citarella mehrstimmige Gesänge an, die klingen wie barocke Polyphonie, mit minimal-musikalischen Wiederholungen und einer anschwellenden Energie, die einen noch in dieser Leinwand-Version in die Stühle drückt. Hier wird wilder, schöner Klang, was vorher in den Mono- und Dialogen wortreich beschworen wurde: Es braucht die Kunst, das Beisammensein, die Freiheit für ein Leben, in dem man sich spürt, miteinander resoniert, füreinander da ist.

All das, was im Text manchmal geradezu kindlich naiv wirkt wie die Idee mit der Flasche ("Versager" nennen im Stück die Pragmatiker und Besitzenden die Poeten und Träumer), wird hier dringliches Ton-Bild, glühend, kompromisslos – und damit Kunst. Man nimmt diesen Klang, mit vollem Stimm- und Körpereinsatz erschaffen, ebenso mit aus dem Saal wie die zentralen Fragen des Abends: Wer bin ich? Wohin gehe ich? Und was tue ich für andere?

Espíritu (Geist)
Teatro Anónimo
Text und Regie: Trinidad González / Schauspielensemble: Trinidad González, Tomás González, Matteo Citarella / Bühne, Kostüme und Licht: Nicole Needham / Musik: Tomás González / Tontechnik: Joaquín Alvear / Produktion Premiere (2022): Katy Cabezas / Produktion und Distribution International: Horacio Pérez / „Geist“ ist eine Koproduktion mit dem HAU Hebbel am Ufer (Deutschland) und der Fundación Teatro a Mil (Chile).
Dauer: 1 Stunde 25 Minuten

 

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