Autobiografisch, persönlich, dokumentarisch       

von Margarita Borja und Georg Kasch

Über 300 Inszenierungen müssen die Kurator*innen der zweiten ¡Adelante!-Ausgabe 2020 in Lateinamerika und Spanien in den vergangenen Jahren gesichtet haben, wenn man die Zahlen grob überschlägt. Wer macht denn so was? Wie schon 2017 waren das neben den künstlerischen Leitern Holger Schultze und dem Journalisten Jürgen Berger die beiden Kuratorinnen Ilona Goyeneche und Lene Grösch. Ein Gespräch über Auswahlkriterien, Regisseurinnen und Theater abseits der Metropolen.

Ilona, Lene, mit den Erfahrungen der ersten Festivalausgabe im Rücken: Habt Ihr diesmal anders geschaut, vielleicht auch gezielter gesucht?

Ilona Goyeneche: Eigentlich nicht. Aber wir waren uns schnell einig, dass wir diesmal auch auf andere Länder gucken wollten. Und zwar gerade auf solche, die sonst nicht so beachtet werden wie Venezuela, Bolivien und Ecuador.

Lene Grösch: Mit dem ersten ¡Adelante-Festival! hat sich unsere Wahrnehmung natürlich sehr verändert. Wir sind jetzt in einer Situation, in der wir permanent vergleichen, auch die politische Lage in Ländern mit dem, worüber wir vor drei Jahren geredet haben. Seit 2017 hat sich unser Netzwerk viel weiter verzweigt, haben wir viel mehr Kontakte und sind besser mit Informationen darüber versorgt, was in den einzelnen Ländern gerade passiert und welche der Produktionen besonders interessant sind. Klar war, dass wir gerne Bolivien einladen wollten, weil es da eine spannende Theaterszene gibt. Dann hatten wir aus politischen Gründen schnell Venezuela auf unserem Radar und wollten Kontakte aufbauen, um die kulturelle Isolation zu durchbrechen.

Letztes Jahr hattet Ihr das ganze Festival unter den Aspekt des Politischen gestellt. In diesem Jahr gibt’s die Schwerpunktreihe "Die Kunst des Widerstands". Warum?

Lene Grösch: Dass wir einen Fokus setzen wollten, hat viel mit den Ländern zu tun, deren Theaterszenen in Europa noch nicht so richtig bekannt sind. Natürlich sind alle eingeladenen Produktionen unter politischen Umständen entstanden oder haben politische Themen. Aber es gibt Gruppen, die in ihren Ländern noch mehr gegen Widerstände zu kämpfen haben als andere. Deshalb wollten wir da eine Differenzierung vornehmen und die Aufmerksamkeit auf Produktionen lenken, die wir herausragend finden, weil man den Kontext mitdenkt.

Apropos Venezuela: Vor drei Jahren habt Ihr noch gesagt, dass das Land nicht dabei ist, weil es zu gefährlich ist hinzufahren. Was hat sich jetzt geändert?

Ilona Goyeneche: Ich habe hier in Mexiko Stadt den Leiter des Festivals in Caracas kennengelernt, und mir war schnell klar, dass wir da auf alle Fälle hinmüssen, um zu sehen, wie das vor Ort ist, gerade weil alle sagen, dass das nicht geht. Wenn man in Lateinamerika lebt, weiß man, dass die Situation oft nicht so gefährlich ist, wie sie von außen erscheint. Zu unserem Erstaunen war es bis kurz vor Beginn unklar, ob das Festival stattfinden kann. Aber ich konnte dann reisen und habe unglaubliche Einblicke in das Land und die Szene bekommen. Das Besondere an ¡Adelante! ist ja, dass wir zum Sichten vor Ort waren, mit den Leuten sprechen konnten, erlebt haben, wie die Situation ist, wie die Produktionen dort wirken und welche Themen wichtig sind.

Lene Grösch: Man muss da auch die kulturpolitische Bedeutung mitdenken: Was heißt es für eine Gruppe aus Venezuela, jetzt nach Europa und Deutschland eingeladen zu werden? Internationaler Austausch mit diesen Ländern ist extrem wichtig, um den Künstler*innen das Gefühl zu geben, dass wir auch in Europa mitkriegen, was da los ist und sie unterstützen wollen. Das hat auch was mit Solidarität zu tun: Wir wissen, unter welchen eigentlich unmöglichen Bedingungen ihr gerade Theater macht. Das wollen wir würdigen – und kämpfen dann auch unsererseits gegen Widerstände an.

Zuletzt ist politisch überhaupt viel passiert in den lateinamerikanischen Ländern. Jeden Tag erreichen uns neue Nachrichten auch aus Staaten, die bislang als stabil galten wie Chile, Argentinien, Brasilien. Verändert sich da gerade was – zum Beispiel auch Eure Perspektive auf die Einladungen?

Lene Grösch: Chile ist das Land, das uns am meisten überrannt hat mit den Ereignissen. Es ist eine traurige Koinzidenz, dass "Muerte y explosión...“ jetzt so extrem viel mit der politischen Situation zu tun hat. Die Inszenierung zeigt die Schmerzpunkte in der Gesellschaft anhand eines konkreten Beispiels. Von da aus zweigt sich das Ganze auf.

Ilona Goyeneche: Als wir uns für "Muerte y explosión...“ entschieden haben, hat uns vor allem interessiert, dass der Abend von einer Ungleichheit und Frustration erzählt, die nur latent zu spüren ist und auch im Stück immer nur indirekt durchsickert. Man verspürt einen Druck, der in Chile jetzt explodiert. Es war erschreckend zu sehen, wie sehr diese Inszenierung erklärt, was gerade in Chile passiert und was die sozialen Forderungen sind.

Lene Grösch: Natürlich verändert sich die Rezeption dadurch, dass man die Ereignisse in Chile jetzt mitbekommt. Wir stecken gerade in der Produktion von “La flauta mágica / Die Zauberflöte“, an der etliche chilenische Künstler*innen beteiligt sind. Dort reden wir sehr viel über die Situation. Das wird auch in der Inszenierung auftauchen, verändert die Probenarbeit und den Text.

Wie viele Produktionen habt Ihr eigentlich gesehen?

Lene Grösch: Schwer zu sagen. Allein in Chile haben sich dadurch, dass wir für eine der beiden Positionen eine Ausschreibung gemacht haben, gut 120 Produktionen beworben. Durchschnittlich waren es aus jedem Land 20 Inszenierungen, über die wir diskutiert haben. Und zwar mit einem massiven Filter, weil wir nicht in jedem Land eine Ausschreibung gemacht, sondern uns sehr spezifisch Ratschläge geholt haben.

Ilona Goyeneche: Um möglichst viel sichten zu können, waren wir viel auf den Festivals vor Ort. Wichtig ist allerdings, sich nicht nur auf diese Strukturen zu verlassen, sondern auch jenseits davon zu gucken. Wir haben uns vor Ort mit den Leuten zusammengesetzt und uns beraten lassen. Denn nach der ersten naheliegenden Auswahl der Arbeiten, die die meisten Leute kennen, fängt die Suche ja erst an. Wir haben recherchiert, uns Zeit genommen und drei Jahre lang geguckt, wer die jungen Theatermacher*innen sind, welche neuen Formate, Themen, Produktionen es gibt.

Lene Grösch: Und zwar auch abseits der Metropolen. In Argentinien zum Beispiel waren wir nicht in Buenos Aires, sondern in Rafaela, einer Kleinstadt, die innerhalb von zehn Tagen durch das Theaterfestival okkupiert wird. Da haben uns viele Leute bestätigt, dass es sonst nur um Buenos Aires geht und nur die Produktionen eine Chance auf internationalen Touren haben, die da gesehen werden.

Aber es sind ja nicht nur Neuentdeckungen dabei.

Lene Grösch: Natürlich gibt es Inszenierungen, die so großartig sind, dass man nicht an ihnen vorbeikommt. Über La Re-Sentida hatten wir schon beim letzten Mal geredet. An “Paisajes para no colorear“ führte jetzt kein Weg vorbei, weil die Arbeit so großartig ist. Dann stehen wir uns auch nicht im Weg und sagen, wir müssen nur Neuentdeckungen bringen.

War Euch beim Sichten die Ästhetik wichtiger oder der Inhalt?

Lene Grösch: So leicht kann man das nicht beantworten. Wir Kurator*innen sind sehr verschieden. Deshalb lässt sich unser Festival nicht auf bestimmte ästhetische Vorlieben oder eine politische Agenda runterbrechen. Wir haben Arbeiten eingeladen, die bei uns als Jury etwas ausgelöst haben. Das kann ästhetisch gewesen sein oder auch inhaltlich. In den meisten Fällen war es beides. Oft ist es ja ohnehin ein Nebeneinander von Dingen: Dass man plötzlich wach wird beim Gucken und denkt, dass das jetzt eine neue Perspektive ist. Oder das eine ganz neue, andere Form hat als das, was ich in den zehn Inszenierungen zuvor gesehen habe. Insofern haben wir eine radikale Mischung von Produktionen eingeladen, die extrem unterschiedlich mit Bildern und Texten umgehen und wo ich mich schwertue, da ästhetisch die Glücksformel finden zu wollen.

In diesem Jahr fällt auf, das mehr Regisseurinnen dabei sind als 2017. Ist das eine bewusste Setzung?

Lene Grösch: Natürlich haben wir das mitgedacht, ich glaube sogar unausgesprochen. Für unser Gefühl sind es immer noch zu wenig.

Ilona Goyeneche: An der Auswahl lässt sich auch ablesen, dass das Thema wichtiger geworden ist, sowohl inhaltlich als auch personell. Es wird mehr über Frauenbilder gesprochen und die Präsenz der Frauen in der Theaterszene. Diese Themen werden dann auch auf der Bühne verhandelt, in “Princesas“ aus Bolivien, in “Vaga Carne“ aus Brasilien oder in “Paisajes para no colorear“ aus Chile.

Ein besonderer Fall weiblicher Selbstermächtigung kommt aus Mexiko: “Casa Calabaza“ ist das Stück einer Autorin, die wegen Mordes im Gefängnis sitzt. Wenn man bedenkt, dass mit der Diskussion um Nobelpreisträger Peter Handke bei uns gerade eine große Debatte stattfindet über Kunst und Moral – ist das nicht problematisch?

Lene Grösch: Das Verstörende an diesem Text, dieser Inszenierung ist, dass das Maye Morenos Geschichte ist und sie zu 28 Jahren Hochsicherheitsgefängnis verurteilt ist. Das Stück ist für sie eine Art der Kommunikation, der Versuch, die Isolation zu durchbrechen, sehr reflektiert, sehr genau. Es geht nicht darum, ein Urteil über sie zu fällen. Es zeigt, wie bestimmte Mechanismen Menschen zu Dingen treiben, die wir normalerweise für absolut untragbar halten. Gerade weil die Geschichte so konkret und persönlich ist, habe ich viel abstrakter über Gesellschaft nachgedacht. Vermutlich löst dieser Abend sehr unterschiedliche Reaktionen aus. Aber das ist ja ein guter Anlass, darüber zu diskutieren.

Ilona Goyeneche: Unabhängig von der autobiografischen Situation steht die Darstellung von Frustration, Unterdrückung, Ausweglosigkeit für etwas viel Generelleres. In Lateinamerika findet man sich oft in Situationen wieder, in denen man das Gefühl hat, da einfach nicht rauszukommen. Gerade in Mexiko, wo sich die Wirklichkeit um Gewalt und die Narco-Geschichten herum konstruiert. Da gibt es komplette Orte, die in einer ausweglosen Situation der Gewalt und Unterdrückung sind, der Frustration.

Wenn man sich als mehrheitlich deutsch besetztes Kuratorenteam bzw. Jury nach Lateinamerika aufmacht, um dort Theater zu sichten – lässt sich verhindern, dass man mit einem europäischen, vielleicht auch kolonialistischen Blick auf die Produktionen schaut?

Lene Grösch: Ich weiß nicht, ob dieses Reden über Unvoreingenommenheit einem wirklich weiterhilft. Das schafft im Kopf nur noch eine Schranke mehr. Ich hatte diesmal weniger Erwartungen oder auch Klischeebilder im Kopf als beim letzten Mal, weil ich schon so viel gesehen hatte, weiß, wie unterschiedlich die Themen und Formen sind und wie absurd die Vorstellung eines lateinamerikanischen Theaters ist. Natürlich gibt es Arbeiten, bei denen ich mich frage, ob ich als deutsche weiße Frau da anders draufschaue, als man das in Lateinamerika tun würde. Aber die Fokusverschiebung in diesem Jahr haben wir uns nicht vorgenommen, sondern vorgefunden. Bei der ersten ¡Adelante!-Ausgabe hatten wir viele Produktionen, die sich mit der Aufarbeitung der eigenen Landesgeschichte beschäftigt haben. Jetzt würde ich es eher so beschreiben: Es ist sehr autobiografisch, persönlich, dokumentarisch, seziert statt der Vergangenheit die Gegenwart.

Ilona Goyeneche: Aus meiner lateinamerikanischen Sicht kann ich sagen, dass wir sehr offen auf die sehr verschiedenen Arbeiten zugegangen sind und uns gefragt haben: Was heißt diese Arbeit fürs Land, im Land? Was für eine Wichtigkeit haben sie? Wie setzen sie sich mit der gesellschaftlich-politischen Situation vor Ort auseinander? Wie positionieren sie sich innerhalb der spezifischen Theaterszene? Und eben nicht: Wie kommt das in Europa, in Deutschland, in Heidelberg an?

Lene Grösch: Es gibt Fälle, wo ich das auch noch gar nicht beantworten könnte. Das außergewöhnlichste Gastspiel ist “Quaseilhas“ aus Brasilien, das auf Yorùbá stattfindet, einer Sprache, die auch in Brasilien nur sehr wenige Menschen sprechen und verstehen. Man lässt sich auf eine besondere Erfahrung ein, wenn man sich in den unterschiedlichen Räumen bewegt, die bei uns in einer Außenspielstätte aufgebaut werden. Jürgen Berger hat den Abend in Brasilien gesehen und Interessantes von den Gesprächen drumherum erzählt. Ich bin sehr gespannt, wie sich das bei uns in Heidelberg entwickelt.

 

Ilona PortraetIlona Goyeneche, chilenische Journalistin, Kulturmanagerin und Kuratorin, arbeitete als Redakteurin bei der chilenischen Tageszeitung EL MERCURIO und ihrer Online-Version. Von 2006 bis 2008 war sie Chefredakteurin der Kulturabteilung von EL MERCURIO ONLINE. Von 2008 bis 2019 war sie für das Goethe-Institut im Bereich Theater und Tanz tätig, zuerst in Chile und dann in Mexiko. Seit 2019 leitet sie die Programmkoordination des Kulturzentrums Casa del Lago der Universität UNAM in Mexiko Stadt. 2014 war sie Jurymitglied des mexikanischen nationalen Tanz-und Choreografie-Preises PREMIO NACIONAL DE DANZA GUILLERMO ARRIAGA. Im selben Jahr war sie Scout des Heidelberger Stückemarktes 2015 und kuratierte die Auswahl des Gastlandes Mexiko. Im gleichen Rahmen übernahm sie die Koordination und Redaktion der Spezialausgabe Mexiko von Theater der Zeit. 2016 ko-kuratierte sie das Mexikanische Theaterfestival “Endstation Sehnsucht“ bei den Münchner Kammerspiele. 2018 war sie Jurymitglied des Theaterfestival in Jalisco, Mexiko, und 2019 der Auswahl der nationalen Inszenierungen für das Festival Internacional de Artes Escénicas FIDAE in Uruguay.

Lene Groesch PortraetLene Grösch studierte Dramaturgie an der HfMT “Felix Mendelssohn Bartholdy” Leipzig, arbeitete parallel von 2006 bis 2009 als Vorstandsmitglied und Teil des künstlerischen Beirats am Lofft.Leipzig und leitete dort die Werkstattbühne. 2009 bis 2012 war sie als Dramaturgin am Theater Ingolstadt engagiert und wechselte 2013 an das Oldenburgische Staatstheater. 2010 initiierte Lene Grösch die Arbeitsgruppe »dg:möglichmacher« der Dramaturgischen Gesellschaft, die auf praxisorientierter Netzwerkarbeit junger Dramaturg*innen basiert. Seit 2014 arbeitet sie in der Schauspieldramaturgie des Theaters und Orchesters Heidelberg, ist dort verantwortlich für Internationale Kontakte und seit 2018 Geschäftsführende Dramaturgin im Schauspiel. Gemeinsam mit Holger Schultze übernahm sie 2017 die künstlerische Leitung des neu initiierten iberoamerikanischen Festivals ¡Adelante!.


..