Mehr Licht!

von Leonard Haverkamp

Heidelberg, 10. Februar 2024. Sie wirken wie ein überdimensionierter Helm, die zum Quader geschichteten Holzschindeln, die Ébana Garín Coronel auf ihren Schultern balanciert. Während sie langsam über die Bühne geht, erzählt sie die Geschichte jenes Hauses, das sie auf der chilenischen Insel Chiloé gefunden hat. Bis sie sich schließlich nach vorne beugt und sich die Schindeln krachend über die Bühne verteilen.

Die Holzteile gehören zu einem Gebäude, das es nicht mehr gibt. Auf Chiloé war es lange Tradition, mitsamt seines Hauses umzuziehen, über Land oder Meer. Bei den so genannten Mingas halfen alle mit, aus Gemeinschaftssinn und Freude am Zusammensein, machten den Umzug zur Party. Von dieser Tradition hat sich das Colectivo Cuerpo Sur dazu inspirieren lassen, in "Minga de una casa en ruinas" die Teile eines verfallenen Hauses auf die Bühne umzuziehen und mit ihnen den Geist einer vergessenen Zeit.

Wo Wände fallen

Man könnte meinen, der Alte Saal macht es nicht mehr lange. Aus allen Ecken des Raumes knarzt und knackt es, wenn Coronel Schindeln vor dem Mikrofon aneinander reibt, den Boden mit den morschen Schindeln auslegt, sie mal sanft streichelt, mal wie ein trotziges Kind einen Arm voll davon zu Boden wirft und sich hinterher, um in dem Meer aus Holz zu baden.

Allerdings ist Ébana Garín Coronel bei dieser Minga ganz allein. Gesellschaft leisten ihr nur ihre eigenen Spiegelbilder, die von den Kameras auf den Bildschirm im Hintergrund der Bühne geworfen werden. Auch zu sehen sind Aufnahmen einer 2019 gefundenen, völlig in sich zusammengesunkenen Ruine, die Stück für Stück abgebaut wird. Im Gentrifikationsprozess der Insel, in der längst der Tourismus regiert, ließ Besitzer Don Dago sein Haus lieber verfallen, als es zu verkaufen – selbst als man eine Stromleitung mitten durch sein Dach baute, um die höher gelegenen Häuser zu versorgen. Das gemeinschaftliche Miteinander von einst ist längst erlo-schen.

Entsprechend einsam bleibt Coronel auf der Bühne, spricht mal von ihrer Faszination für das verfallene Haus, führt mal einen Dialog mit Don Dago, mal einen mit ihrer Mutter. Aus den morschen Schindeln rekonstruiert Coronel nämlich ihre eigene Geschichte. Die einer Vierjährigen, deren Eltern wegen der politischen Verhältnisse in Chile nach Ecuador fliehen müssen. Eine Entscheidung, die weder freiwillig noch rückführbar ist (so die Antwort der Mutter an die Tochter). Im Exil reißen ihre Eltern Wände ein. Sie brauchen keinen Ort, um Dinge anderer Leute aufzuhängen. Sondern mehr Licht, um malen zu können. Bis die Gemälde dem Feuer übergeben werden, als die Familie nach dem Abdanken Pinochets nach Chile zurückkehrt – weil kein Platz im Koffer ist. Aber offensichtlich auch, um eine Episode der Entwurzelung symbolisch zu beenden.

Sehnsucht nach Sinnlichkeit und Gemeinschaft

"Minga de una casa en ruinas" kann problemlos als Identitätssuche auf einem Kontinent ständi-ger Migrationsbewegungen gelesen werden, genauso wie als Kritik an Wegwerfgesellschaft, dem Erlöschen indigener Traditionen oder der Sehnsucht nach Sinnlichkeit und Gemeinschaft – und behält sich dennoch etwas Eigenes zurück.

Zwischen den Schindeln, die wie ein Mobile von der Decke baumeln, den Boden säumen oder auf einem Rollbrett über die Bühne gekarrt werden, geht Coronel auf die Suche nach der verlorenen Zeit, mit der auch die Mingas verschwunden sind. Das Innehalten inmitten des Trümmerhaufens einer fernen Ruine eröffnet einen neuen Zugriff auf eine Welt, in der heute vieles austauschbar geworden ist, die Charakter und Seele verloren hat. Wenn auf den Bildern im Hinter-grund ein Baum so gefällt wird, dass er mitten in die Ruine eines weiteren Lost Place kracht, erweckt der aufgewirbelte Staub fast den Anschein, als habe man dem verfallenen Holzskelett ein wenig Leben eingehaucht.

Minga de una casa en ruinas (Minga. Umzug eines verfallenen Hauses)
Colectivo Cuerpo Sur
Deutsche Erstaufführung
Regie und Recherche: Ébana Garín Coronel, Luis Guenel Soto / Text und Darstellung: Ébana Garín Coronel / Produktion: Colectivo Cuerpo Sur / Gesamtkonzeption Design: Ricardo Rome-ro Pérez / Komposition und Tondesign: Damián Noguera Berger / Bühnenbildassistenz: Mon-tserrat Fonseca Llach / Technische Assistenz: Nicolás Zapata Soto / Koproduktion: PAFFF/Arcadia Fryslan – Países Bajos / Part¬ner: CECREA – Castro, Centro NAVE, Beurs-schouwburg, Brüssel, Belgien
Dauer: 50 Minuten

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