Alles Hypernormal
von Leonard Haverkamp
Heidelberg, 7. Februar 2024. Dieser Sisyphos wirkt keineswegs glücklich: Im Vollsprint auf allen Vieren, mit beiden Händen auf einen Wischmopp gebückt, wienert Lázaro Saavedra Serpentine für Serpentine die Bühne. Oben angekommen, dreht er um und fährt die Bahnen wieder zurück, bis er schließlich auf den nassen Schlieren ausrutscht, immer wieder auf die Knie fällt, schluchzt, schreit. Währenddessen sitzt sein Bruder César mit steinerner Miene am Rande der Bühne, tief in einen alten Röhrenfernseher gebeugt, und schaut Nachrichten.
Die kubanische Performance "Normalización" (Normalisierung) lehnt sich an das Konzept der "Hypernormalisierung" von Alexei Yurchak an. Der Anthropologe charakterisierte damit die letzten Tage der Sowjetunion: Das System war längst dem Untergang geweiht; weil eine Alternative für Politik und Bevölkerung schwer vorstellbar war, taten alle so, als würde es weiter funktionieren. Das Echo dieser Implosion inszeniert die kubanische Theaterikone Nelda Castillo.
H = Hunger, R = Repression, E = Einheitsstaat
Die Probleme des Inselstaates sind so offensichtlich, dass man ein Krisen-Alphabet daraus machen könnte (Ausschnitte davon werden immer wieder über die Bühne projiziert). Das Gesundheitssystem liegt in Scherben, die Leute sterben, weil für einfache Operationen die Mittel fehlen. Wer arbeitet, bekommt eine Währung ausgezahlt, von der man sich nichts kaufen kann. Insbesondere junge Menschen verlassen das Land – wenn sie können. César und Lázaro Saavedra leben bis heute in Kuba; das Visum für das Festival bekamen sie nur nach einigem Ringen und nur für fünf Tage (die nicht mal für das gesamte Festival reichen). So groß ist die Angst, dass die jungen Künstler nicht zurückkehren könnten.
Mit Sonnenbrillen, die Hände vor dem Schritt gefaltet, stehen die Brüder wie zwei Türsteher vor einer leeren weißen Wand. Hinter ihnen ertönen Stimmfetzen von den Fluchtrouten – mit dem Floß nach Florida oder durch den gefährlichen Darién-Dschungel. Aspirin und weiße Pullis gegen die Sonne hätten sie dabei. Es geht jetzt aufs Wasser, Angst klingt aus ihren Stimmen.
Mit dem Körper erzählen
In den Nachrichten hört man davon wenig – was "Normalización" immer wieder zum Thema macht. Wenn die Brüder in verschiedenen Sprachen über Nonsens wie NFTs oder Blockchain schwadronieren. Wenn sie zwischen zwei Studiolampen ein Interview mimen, bei dem sie immer nur dasselbe Wort sagen. Wenn europäische Medien stattdessen vom Tod Lady Dianas berichten oder die Tagesschau nur vom für Deutschland relevanten Exodus irgendwo zwischen Syrien und der Türkei.
Vieles darf nicht gesagt werden. In den letzten Jahren nahm die Zensur von Theatern wie dem von Nelda Castillo gegründeten El Ciervo Encantado weiter zu. Das sei jedoch nicht der Grund für die abstrakte Arbeitsweise, erklärt die Regisseurin beim Publikumsgespräch nach dem Stück. Weil die Geschichte immer von den Gewinner*innen geschrieben wird, lässt sie die Körper der Performer*innen sprechen – die die Erinnerungen des Landes in sich tragen.
Nichts ist normal
Wie sich die grausamen Eindrücke der Hypernormalität in den Saavedra-Brüder niederschlagen, zeigen die Tänzer mit eindrücklichen Performances. Lázaro, wenn er oberkörperfrei mit einem Fächer die Luft durchschneidet, während er mit gebleckten Zähnen die Rede des Schriftstellers Miguel de Unamuno nachspricht, der zu Beginn des Spanischen Bürgerkrieges den Faschisten ein paar Wahrheiten in Gesicht sagte – Beginn der Verfolgung aller Franco-Kritiker (so wie Kuba-Kritiker heute im Gefängnis landen). César, wenn er seinen Körper in einer beeindruckenden Mischung aus Geisteraustreibung, Karate und Breakdance über die Bühne wirft, während ihn seinen Schatten auf einer blauen Fläche im Hintergrund verfolgt, die entsteht, wenn der Beamer "sin señal" ist, ohne Signal.
Dazu heulen laute Sirenen, es laufen verwaschene Tonbandaufnahmen, Elektrobeats, spanischsprachiger Schlager und Rammstein. So laut, dass sie noch Stunden nach dem Verlassen des Theaters nachhallen. Die politischen Hintergründe sind auf diese Art schwer nachzuvollziehen, man muss sie sich anlesen oder im Nachgespräch holen. Vielleicht, weil die Fakten auf dem Tisch liegen, jede Erklärung, jedes Gespräch im Blabla zu enden droht, wie die Nonsense-Dialoge auf der Bühne nahelegen. Die Wucht, mit der die Zustände der Hypernormalisierung in den Körpern der Performer nachhallen, wird an diesem Abend aber definitiv spürbar.
Normalización
El Ciervo Encantado
Europäische Erstaufführung
mit deutschen Übertiteln
Regie: Nelda Castillo / Mit: Lázaro und César Saavedra Nande / Beratung: Mariela Brito / Licht: Hermes Vergara, Alberto Gutiérrez / Produktion: El Ciervo Encantado
Dauer: 55 Minuten