Ein Erbe der Kolonisationsgeschichte?

von Janis El-Bira und Georg Kasch

17. Februar 2017. Neun von insgesamt dreizehn Inszenierungen aus sieben Ländern sind bei ¡Adelante! inzwischen über die vier Bühnen des Heidelberger Theaters gegangen. Zeit, eine Zwischenbilanz zu ziehen. Georg Kasch und Janis El-Bira haben sich dafür per Chat ausgetauscht.

Georg, Donnerstag, 16. Februar 2017 um 15:45 UTC+01
Janis, die Halbzeit bei ¡Adelante! haben wir schon überschritten. Was war für dich bislang die prägendste Erfahrung?

Janis, Donnerstag, 16. Februar 2017 um 15:49 UTC+01
Wenn man prägend jetzt mal vor allem positiv versteht, dann finde ich es faszinierend, dass die beiden Abende, die ich bislang am stärksten fand, unterschiedlicher nicht sein könnten: "La Cautiva" und "Algo de Ricardo". Einerseits dieses naturalistische Figurentheater, andererseits ein fast essayhafter Experimentierabend. Ich hatte nicht unbedingt erwartet, dass beides hier in dem Maße Platz haben würde.

Georg, Donnerstag, 16. Februar 2017 um 15:51 UTC+01
Ich wiederum hätte nicht erwartet, dass sich so viele rote Fäden durch die ja sehr verschiedenen Arbeiten ziehen. Zum Beispiel das Politische. Klar, in unterschiedlich starken Ausprägungen. Oder das Textlastige (Ausnahmen wie "Un Poyo Rojo" bestätigen die Regel). Außerdem gibt es kaum eine Inszenierung, die nicht vom magischen Realismus geprägt wäre. Spannend ist dann wieder, wie sehr unterschiedlich das aussehen kann.

Handfeste Konsequenzen

Janis, Donnerstag, 16. Februar 2017 um 15:53 UTC+01
Das Dialogische ist schon ausgesprochen dominant, manchmal bis zu dem Punkt, dass man fast nur noch auf die Übertitel schaut, ohne das Gefühl zu haben, jetzt ganz Wesentliches zu verpassen. Das Sich-Erklärenwollen scheint überhaupt sehr wichtig zu sein.

Georg, Donnerstag, 16. Februar 2017 um 15:55 UTC+01
Absolut. Bis dahin, dass oft am Ende noch einmal deutlich ausgesprochen wird, was vorher die ganze Zeit im Raum steht. Etwa in "Donde viven los Bárbaros", einem ansonsten hervorragenden Stück – da wird am Ende noch mal ausdrücklich gesagt: "Wir sind die Barbaren." Das hatte man da längst kapiert.

Georg, Donnerstag, 16. Februar 2017 um 15:57 UTC+01
Andererseits hatte ich den Eindruck, dass größere Teile des Publikums vor Ort ganz dankbar waren für solche Klarheit. Denn es gibt ja auch genug Momente, in denen uns ein bisschen mehr Hintergrundwissen über politische, gesellschaftliche und kulturelle Verhältnisse eines Landes ganz gut tun würden. Da helfen die vielen Publikumsgespräche enorm.

Janis, Donnerstag, 16. Februar 2017 um 15:59 UTC+01
Sicherlich. Ich bin allerdings überrascht davon, dass das offensiv Politische, so wie man es in Deutschland vielleicht vor allem mit dem Theater der 60er- oder 70er-Jahre verbindet, und von dem ich hier sehr viel zu sehen erwartet hätte, eher seltener vorkommt. Das Ende der mexikanischen "Antigone" mit seinem Volksaufstand war da eine Ausnahme. Aber vielleicht verkennt man auch, wie weit das im lateinamerikanischen Kontext in Wahrheit alles schon geht. Tatsächlich hat so etwas in einigen der eingeladenen Länder ja auch handfeste Konsequenzen, wenn man etwa an den Versuch in Peru denkt, "La Cautiva" des Straftatbestands "Entschuldigung des Terrorismus" verantwortlich zu machen.

Viele der eingeladenen Produktionen leisten Erstaunliches

Georg, Donnerstag, 16. Februar 2017 um 16:01 UTC+01
Bei "Inútiles" gab es auch ein sehr eindeutiges Ende, das eine Revolution zumindest nahelegt. In einem Pathos, das uns eher befremdet. Aber vielleicht hat dieses Stück in Chile eine ähnliche Wirkung wie "Der Stellvertreter" bei seiner Uraufführung in Deutschland. So etwas einzuschätzen finde ich wirklich schwierig – und da kommen wir auch als Kritiker an unsere Grenzen. Ich habe mir in den letzten Tagen öfter gedacht, dass unsere Einzelkritiken den eingeladenen Produktionen nur bedingt gerecht werden. Vor allem denen, die weit weg scheinen von unserer mitteleuropäischen Realität und der Art, wie hier oft Theater gemacht wird. Eigentlich müsste man diese Unterschiede in jedem der Texte neu verhandeln, um die Leistung und die mögliche Wirkung zu würdigen.

Janis, Donnerstag, 16. Februar 2017 um 16:05 UTC+01
Auf jeden Fall. In dem Zusammenhang fand ich aber gerade uns sehr "altmodisch" erscheinende Arbeiten wie "La Cautiva" sehr spannend. Die Stärke von einem Abend wie "Un Poyo Rojo" mag sicherlich sein, dass man ihn überall aufführen kann. Da gibt es keine Übersetzungsschwierigkeiten und das nicht nur, weil er ohne Sprache auskommt. "La Cautiva" ist dagegen wie eine Zeitreise, die sich aber selber natürlich gar nicht als museal wahrnimmt. Das finde ich sehr reizvoll und irgendwo - in Ermangelung eines besseren Wortes - auch "aufrichtig". Interessant finde ich aber trotzdem, dass das völlig Andere an Theatersprachen, worauf ich hier heimlich vielleicht ein bisschen gehofft hatte, ausbleibt. Im Großen und Ganzen waren das bisher alles Inszenierungen, wie sie auch auf kleineren deutschen Stadttheaterbühnen hätten entstanden sein können. Aber man kommt nicht umhin: Auch das ist ein Erbe der Kolonisationsgeschichte.

Georg, Donnerstag, 16. Februar 2017 um 16:15 UTC+01
Das weiß ich gar nicht. Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass es in Deutschland ein Stadttheatersystem und eine riesige freie Szene gibt mit entsprechender Förderung. Man muss sich den Großteil des Theaters in Lateinamerika ja als schlecht finanzierte freie Szene vorstellen. Was zum Beispiel die eher kargen Bühnen erklärt. Und dafür leisten viele der eingeladenen Produktionen doch Erstaunliches.

Standortbestimmungen

Janis, Donnerstag, 16. Februar 2017 um 16:19 UTC+01
Das würde ich auch gar nicht in Frage stellen wollen. Mir geht es eher darum, dass zum Beispiel das Indigene zwar als Zitat dauerpräsent ist, allerdings vor allem in Gestalt von Außenseitern oder den Angehörigen einer anderen Klasse oder eines anderen Wertesystems. In die Ästhetik findet das aber kaum Eingang. Selbst wenn getanzt wird, wie in "Antigone", wirkt das doch ziemlich europäisch.

Georg, Donnerstag, 16. Februar 2017 um 16:22 UTC+01
Das stimmt. Interessant finde ich ja, dass in vielen Inszenierungen um eine Standortbestimmung gerungen wird, um die eigene Identität, die kritisch hinterfragt wird. Wer/was/wie ist unsere Gesellschaft? Kaum ein Text kommt dabei ohne Verweis auf Europa aus, auf Kolumbus und die Eroberer, auf die Ureinwohner.

Janis, Donnerstag, 16. Februar 2017 um 16:25 UTC+01
Man merkt daran eben auch, dass es sich vielfach um sehr junge Gesellschaften handelt, die eine freie Standortbestimmung darüber, wie und mit wem man leben will, erst seit Kurzem vornehmen können.

Georg, Donnerstag, 16. Februar 2017 um 16:26 UTC+01
Jedenfalls bin ich gespannt, wie es jetzt weitergeht. Und wie Spanien als Vertreter des alten Europa hier abschneidet.

Janis, Donnerstag, 16. Februar 2017 um 16:33 UTC+01
Wir haben ja nicht nur Spanien noch vor uns, sondern auch Uruguay, Kolumbien und eine weitere kubanische Arbeit. Da werden sich wahrscheinlich noch einige Zusammenhänge auftun, von denen wir jetzt noch nicht viel ahnen.